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Where Are You?

Where Are You
Veröffentlichung: 1957
Label: Capitol

Review:

WHERE ARE YOU?
Capitol, 1957

Im Jahre 1957, auf dem Höhepunkt seiner stimmlichen und interpretatorischen Fähigkeiten, erschien Sinatras erste Stereo-LP: „Where Are You“ enthält 12 Lieder, die von höchster gesanglicher und emotionaler Qualität sind. Einen authentischeren und echteren Sinatra erlebt man auf kaum einer anderen Platte. Und auch keinen ergreifend schöneren.

Das Album bietet eine perfekte Symbiose aus Sinatras voller, kräftiger Stimme und den nur so vor Streichern strotzenden Arrangements Gordon Jenkins’. Jenkins versucht nie, sich musikalisch in den Vordergrund zu drängen und dem Sänger die Schau zu stehlen. Stets ist es Sinatras einzigartige, wohltuend warme Stimme, auf die der Arrangeur den Fokus lenkt und die er in seinen Streicherteppichen sanft bettet.

Das Album kann als Weiterführung von „In The Wee Small Hours“ gesehen werden. Während dieses hauptsächlich in geschlossenen Räumen spielte (Bar, Zimmer usw.), in denen der Protagonist den Schmerz für sich behält und „alleine“ bleibt, so begibt sich das lyrischen Ich in „Where Are You“ in die Natur und unter Menschen.

„Where Are You?“ ist mit seiner schmerzbehafteten Frage nach der verlorenen Liebe ein würdiger Titelsong. „The Night We Called It A Day“ führt den Hörer in die Natur. Sinatra besingt nicht nur einen verhängnisvollen Tag in der Vergangenheit, sondern auch den Mond am Himmel, der von Wolken bedeckt wird und eine romantisch-geheimnisvolle Umgebung wird musikalisch umgesetzt. Die Reise des lyrischen Ichs geht weiter an das Ufer eines Meeres – „I Cover The Waterfront“ beschwört die verloren gegangene Liebe zur Rückkehr.

Die vergebliche Suche nach der Liebsten wird in „Maybe You’ll Be There“ fortgeführt. An allen möglichen und unmöglichen Orten sucht das lyrische Ich nach seiner Liebe. Voll von Hoffnung und einem reichlichen Maß an Naivität trägt Sinatra dieses herzergreifende Stück vor. Ein einminütiges, stechend schmerzvolles Intro führt uns zu „Laura“. Jenkins kreiert eine düstere und oftmals hoffnungslose Atmosphäre, ebenso geheimnisvoll erscheint uns Sinatra – um uns am Ende mit offenen Fragen im Nebel des Ungewissen zu lassen („but she’s only a dream“)

Der Höhepunkt des Albums – und für viele auch der absolute Höhepunkt Sinatras über 50-jähriger Studiogeschichte - ist zweifelsohne „Lonely Town“. Der Hörer wird aus der einsamen, düsteren Landschaft hinausgeführt in eine belebte Stadt – die jedoch genauso einsam, leer und tot zu sein scheint. Zu Beginn des Songs erklingen Waldhörner wie durch einen dichten Nebel, Streicher werden kaum merkbar hinzugefügt und dann setzt Sinatra mit einem ehrfurchtserregenden „New York, New York“ ein. Doch in Wirklichkeit ist Sinatra voll von Einsamkeit, Nervosität und Angst. Jenkins Orchestrierung tritt anfangs vollkommen in den Hintergrund, ja erscheint beinahe schon dünn und zerbrechlich; einzig und allein um Sinatra im dramaturgischen Höhepunkt des Songs bei „unless there’s love“ aus vollen Rohren zu unterstützen und den Hörer mit den Streichereinsätzen in eine wärmende Decke aus Liebe und Zuneigung einzuwickeln. Dem emotionsgeladenen Höhepunkt folgt ein beinahe schon abruptes Ende, der Sänger wird wieder leise und abermals schwingt ein Hauch Verzweiflung und Einsamkeit als Gegenstück zur vorher dargebotenen Glückseligkeit mit.

Der siebte Titel des Albums lässt auf musikalische Art und Weise Herbststimmung entstehen. Johnny Mercers wunderschön trauriges „Autumn Leaves“ wird von Sinatra in einer ungeheueren Emotionalität dargeboten. Perfekte Phrasierung und ein stechendes Timbre passen sich perfekt in das Arrangement von Gordon Jenkins ein. Den Titel „I’m A Fool To Want You“ nahm Sinatra bereits 6 Jahre zuvor für Columbia in der ultimativen Version auf. Zwar hat man bei dieser Neufassung auf den gelegentlich störenden Chor verzichtet und auch findet der Song keine ganz so dramatische Zuspitzung wie in der Ersteinspielung. Vielmehr fügt sich das Lied in seiner Neubearbeitung durch Jenkins perfekt in das Klangkonzept des Albums ein und auch hier gelingt es Sinatra einmal mehr, Musik zu einer ergreifenden und ungeheuer schmerzlichen Erfahrung zu machen.

Teile der Melodie von „I Think Of You“ gehen auf den Russen Sergei Rachmaninoff (der „letzte Romantiker“) zurück. Das lyrische Ich befindet sich wieder in einem Raum, in seiner „inneren Einsamkeit“ und kann nur an seine Liebste denken. Erinnerungen und Gedanken überkommen ihn und in seiner Wehrlosigkeit gibt er sich der Vergangenheit hin. Auf „Where Is The One?“ ist nicht mehr von der einen, speziellen Liebe die Rede. Allgemeiner ist er nun auf der Suche nach der Liebe, die für ihn bestimmt ist.

Schon mit den ersten Tönen lässt „There’s No You“ erahnen, dass es sich um ein schwermütiges Stück handelt. Sinatra liefert eine gefühl- und kraftvolle Darbietung ab und singt sich das Herz aus der Seele. Im letzten Lied des Albums „Baby, Won’t You Please Come Home“ werden bluesige Töne angeschlagen. Ein verzweifelter und bettelnder Bittgesang an die Liebste.

Und so endet das Album, womit es auch schon begann: mit einer Frage, auf die die Antwort offen bleibt. Die CD-Veröffentlichung enthält vier Bonus-Tracks, die aber allesamt nicht zur Stimmung und dem das Album beherrschenden Klang passen und nur der Komplettheit wegen zu begrüßen sind.

© Marc Rothballer, Dezember 2006, für Sinatra – The Main Event

Where Are You? ist Sinatras dreizehntes Studio-Album. Das Album wurde 1957 von Capitol-Records veröffentlicht.

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