Miller, Bill

SPIEL MIR EINE ALTE MELODIE

Sinatras Mann am Klavier: Bill Miller 1915-2006
von Bernhard Vogel

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I. Begin The Beguine

Las Vegas, Nevada, am Beginn der Fünfziger Jahre: Boomtown. Eine aufstrebende Metropole der Glücksritter, an den Spieltischen und jenseits davon. Stars und Sternchen, und immer mehr namhafte Künstler, geben sich die Klinke in die Hand, neue Hotels und Casinokomplexe schießen wie Pilze aus dem Boden. Es sind Bühnen, auf denen die Zukunft liegt. Wie zum Beispiel das „Desert Inn“ am südlichen Las-Vegas-Boulevard, eröffnet im April 1950.

Irgendwann im Spätsommer 1951 tritt dort in der Lounge ein 36jähriger Pianist auf, zusammen mit seinem Trio. Sein Klavierspiel läßt aufhorchen: Eine raffinierte, jazzige Mischung aus flotten und leisen Tönen, sparsame aber pointierte Improvisationen, mit versierter Leichtigkeit vorgetragen, aber alles andere als dahinplätschernde „Lounge Music“: Ein Sound, der immer mehr Zuhörer anlockt und neben den Shows im großen Saal bald zum Geheimtip wird.

Auch Edward Chester Babcock spitzt die Ohren – und der kennt sich aus, denn unter seinem Künstlernamen Jimmy van Heusen (1913-1990) zählt er schon länger zur ersten Garde der amerikanischen Komponisten. Van Heusen hat eine Idee: Einer seiner besten Freunde soll demnächst sein Debut im „Desert Inn“ geben und sucht dafür noch einen Pianisten. Da wäre dieser Bill Miller doch vielleicht der richtige?

Und so sitzt wenig später ein schlaksiger Sänger im Publikum der Lounge, der mit seiner Stimme seit zehn Jahren ganz Amerika verzaubert. „The Voice“ nennen sie ihn, und auch ihm gefällt, was er da hört. Frank Sinatra ist seit jeher ein Mann der schnellen Entschlüsse, auch dieses Mal. Am 13. September 1951 sitzt Bill Miller zum ersten Mal für ihn am Klavier, drinnen im großen Saal.

55 Jahre später, im Juni 2006, im anderen großen amerikanischen Spielerparadies, Atlantic City, an der Ostküste. In der Lounge des „Hilton“ sitzt Bill Miller, 91, an einem Tisch und nippt an einem Glas Wodka. Seine Haare sind längst schlohweiß geworden, und sein schmaler Körper ist vom Alter gebeugt. Meist bewegt er sich jetzt in einem Rollstuhl fort. Aber am Flügel gleiten seine Hände immer noch mit unveränderter Eleganz über die Tasten. Und der Sänger, den er Abend für Abend auf der Bühne begleitet, heißt immer noch Frank Sinatra. Genauer gesagt: Frank Sinatra junior, den alle „Frank“ nennen. Von „The Voice“ redet Miller nur als „Big Frank“. Viereinhalb Jahrzehnte lang ist er mit ihm aufgetreten, zum letzten Mal vor über 11 Jahren. Acht Jahre sind seit Frank Sinatras Tod vergangen, doch Millers Erinnerungen an jenen September 1951 in Las Vegas sind lebendig geblieben.

„Er kam einfach zu mir rüber“, erzählt Miller dem Reporter, „und sagte: ‚Hey, Junge, wie wärs, hast Du nicht Lust, für mich zu arbeiten?‘“. Hatte er. Bei vielen hundert Studioaufnahmen, tausenden von Konzerten. Als Duettpartner, Mitspieler, Orchesterleiter, Probenpartner, Berater, Freund. Musikgeschichte haben sie gemeinsam geschrieben, mit „One For My Baby“ oder „Angel Eyes“ einen der atemberaubendsten Show-Acts der Entertainmentgeschichte inszeniert. Miller winkt bescheiden ab.
„Ich war damals einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, sagt er. „Glück gehabt!“

II. The Ace Of Jazz

Als Bill Miller zur Welt kam, am 3. Februar 1915 im New Yorker Stadtteil Brooklyn, war Frank Sinatra noch nicht geboren. Miller besuchte die New Utrecht High School, die gerade ihr neues Domizil an der 80.Straße/Ecke 17th Avenue bezogen hatte, wo sie noch heute existiert. Daß man dort der musikalischen Ausbildung besondere Bedeutung zumaß, kam dem jungen Bill sehr entgegen – denn seine Liebe galt der Musik und dem Klavierspiel, das wußte er schon bald. Und Gelegenheiten, sein Talent unter Beweis zu stellen, gab es auch genug, vor allem bei den „B’nai Mitzvah“, den großen Familienfesten, mit denen die jüdische Gemeinschaft die Erwachsenreife ihrer Jugend feiert. Zu jeder „Bar Mitzvah“ (bzw. „Bat Mitzvah“ bei Mädchen) gehören Musik und Tanz dazu, und hier fand Miller seine ersten Engagements. Ohne falsche Bescheidenheit ließ er sich sogar eine eigene Visitenkarte drucken. Darauf stand zu lesen: „Bill Miller, The Ace Of Jazz“.

Zwar sollte es noch etwas dauern, bis Miller alle seine Trümpfe würde ausspielen können, doch sein Talent am Flügel sprach sich schon bald so weit herum, daß die ersten Bandleader auf ihn aufmerksam wurden. Und so bekam er mit gerade 18 Jahren sein erstes festes Engagement bei einer Tanzkapelle: Larry Funk & His Band Of A Thousand Melodies hieß die Truppe, bei der Miller ab 1933 unter Vertrag stand. Eines von den zahllosen Orchestern der damaligen Zeit, deren Ruhm eher regionalen Zuschnitts war und die heute längst vergessen sind, aus deren Talentschmieden aber viele der Größen hervorgegangen sind, denen die „Swing-Ära“ ihren Namen verdankt. Bei Larry Funk beispielsweise spielte Miller auch mit Vaughn Monroe (1912-1973) zusammen, der später in den Vierziger Jahren mit großem nationalen Erfolg sein eigenes Orchester führte (und einem jungen Gitarristen namens Don Costa seine erste Plattform bot). Und Helen O’Connell (1920-1993), die ab 1939 bei Jimmy Dorsey als Sängerin arbeitete und mit „Tangerine“ einen Welthit landete, begann ihre Laufbahn ebenfalls bei Funks Orchester der Tausend Melodien.

Ein anderer „typischer“ Bandleader der Dreißiger Jahre war Joe Haymes (1908-1964). Er hatte ein besonders gutes Ohr für junge Talente, und die Liste der von ihm entdeckten Instrumentalisten, die sich später einen eigenen Namen machten, ist erstaunlich lang. Doch der Blick dafür, sein Orchester entsprechend zu vermarkten, fehlte ihm, und so blieb der ganz große Durchbruch aus. Stattdessen profitierten immer wieder andere Orchesterleiter von seiner Arbeit, indem sie seinen Talentschuppen regelrecht plünderten. Als beispielsweise Tommy Dorsey 1935 die Zusammenarbeit mit seinem Bruder Jimmy aufkündigte und sein eigenes Orchester gründete, verpflichtete er nicht weniger als 12 der 14 Musiker von Haymes‘ damaliger Truppe, mit denen er dann eine Weltkarriere startete – ab 1940 mit Frank Sinatra als Sänger. Auch andere bekannte Bandleader wie Les Brown oder Ray Noble „bedienten“ sich später aus dem Fundus von Joe Haymes.

Joe Haymes aber stellte unverdrossen sogleich ein neues Orchester zusammen, und da auch sein bisheriger Pianist zu Tommy Dorsey gewechselt war, gab er dem nächsten jungen Mann eine Chance: Bill Miller. Der wiederum genoß die Möglichkeit, nun regelmäßig mit anderen aufstrebenden Instrumentalsolisten musizieren zu können, wie mit Benny Goodmans späterem ersten Trompeter Chris Griffin, oder mit Zeke Zarchy, der später bei Dorsey Furore machte. Auch gab Haymes seinen Musikern immer wieder die Freiheit, das Programm selbst mitzugestalten. Erfahrungen, von denen Bill Miller zeitlebens würde profitieren können – und Auftritte, die ihm jetzt einen großen Schritt vorwärts auf der Karriereleiter ermöglichten.

Denn Anfang 1937 stellte der Vibraphonist Red Norvo (1908-1999) sein erstes eigenes Orchester zusammen, das innerhalb weniger Wochen zu einer der angesagtesten Swing-Bands der USA werden sollte. Norvo kannte Bill Miller von einigen gemeinsamen Gigs früherer Jahre her, und kabelte ihm das Angebot, für 75 Dollar die Woche als Pianist bei ihm einzusteigen, eine für damalige Verhältnisse unglaublich hohe Summe. Miller selbst fand das sogar so unglaublich, daß er es für eine Art Aprilscherz hielt und die Nachricht zunächst gar nicht beantwortete – solange, bis er kurze Zeit später Norvos neues Orchester im Radio spielen hörte und von dem Sound begeistert war. Da griff Miller, wie er später bekannte, zu einer Notlüge und rief bei Norvo an: Ob wohl ein Job am Klavier frei sei? Nein, das Telegramm habe er nicht bekommen...
75 Dollar die Woche? Natürlich sei er damit einverstanden...

III. I Love A Piano

Zwei Jahre lang spielte Miller von da an beim Mr & Mrs Swing Orchestra, das von Norvo und seiner Frau, der Jazzsängerin Mildred Bailey (1907-1951), angeführt wurde. Bei Tourneen im ganzen Land, aber jetzt auch im Plattenstudio, konnte Miller jetzt zum ersten Mal auch seine Fähigkeiten als Begleitmusiker für einen Vokalisten weiterentwickeln und schärfen, nicht zuletzt dank Eddie Sauter (1914-1981), einem der profiliertesten Arrangeure der Zeit, den Norvo damals für seine Band verpflichtet hatte und der Millers Talent entscheidend förderte. Besonderen Erfolg hatte Baileys Erstaufnahme von „Please Be Kind“ (1938), ein Titel, der später über lange Jahre auch zu Sinatras Programm gehörte, oft mit Bill Miller am Klavier. Und als Norvo 1959 mit Frank Sinatra auf eine ausgedehnte Konzerttournee ging (bei der unter anderem das Capitol/Blue Note-Album „Live In Australia“ entstand), verstärkte er sein Quintett mit – Bill Miller.

Anfang 1939 zerbrach die Ehe Baileys mit Norvo, und damit auch das so erfolgreiche Orchester. Bill Miller jedoch fand sofort wieder Unterschlupf bei einem nicht minder bekannten Bandleader der Zeit, nämlich bei dem Saxophonisten Charlie Barnet (1913-1991). Dessen erster Trompeter, der auch einen Großteil der Arrangements für Barnets Auftritte verfaßte, war von Millers Klavierspiel so sehr angetan, daß er ihm die Führung der Rhythmusgruppe anvertraute – Billy May. Es war der Beginn einer musikalischen Freundschaft, die bis weit in die Neunziger Jahre hinein andauern und neben vielen anderen gemeinsamen Aufnahmen auch die Albumklassiker umfassen sollte, die Billy May ab 1957 mit Frank Sinatra bei Capitol und später bei Reprise einspielte, bei denen Miller stets Mays erste Wahl war.

Mit Skip Martin (1916-1976) arbeitete damals ein weiterer später für Sinatra tätiger Arrangeur bei Charlie Barnet. 1939 schrieb er zwei Stücke speziell für Bill Miller, bei denen der Pianist sein ganzes Improvisationstalent zeigen konnte: „The Count’s Idea“ und „The Duke’s Idea“ hießen die beiden Nummern, mit denen das Orchester den Jazzgrößen Basie und Ellington seine Reverenz erwies und die ihm den Namen „the blackest white Big Band“ einbrachten.

Count Basie selbst war vom Ergebnis und speziell von Millers „The Count’s Idea“ begeistert, und das sollte sich für Barnet und seine Leute auszahlen, als sie am 2. Oktober 1939 nur um Haaresbreite einer Katastrophe entkamen: Während ihres Konzertauftritts im legendären „Palomar Ballroom“ an der Vermont Avenue in Los Angeles brach dort unmittelbar hinter der Bühne ein Feuer aus, das sich in Windeseile ausbreitete. Das Publikum und die Musiker, darunter Bill Miller, konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen, mußten jedoch zusehen, wie der Klub bis auf die Grundmauern niederbrannte und mit ihm alle ihre Instrumente und Notenblätter restlos in Flammen aufgingen.

Als Basie davon hörte, ließ er sofort seinen gesamten eigenen Bestand an Arrangements und Partituren für Charlie Barnet kopieren, so daß das Orchester schon nach wenigen Tagen wieder auftreten und seine Tournee fortsetzen konnte. Für Bill Miller bedeutete das, daß er nun umso öfter im Basie-Stil spielte, was seinen eigenen musikalischen Vorlieben sehr entgegenkam – nach seiner Lieblingsmusik befragt, nannte er zeitlebens Basie als ersten. Die Sache war aber auch noch in anderer Hinsicht zukunftsweisend, denn als Frank Sinatra später in den Sechziger Jahren bei Reprise gemeinsame Alben mit Basie und Ellington einspielte, saß bei einigen der Aufnahmen (in Ellingtons Fall sogar bei der übergroßen Mehrzahl) statt der beiden Meister auf Wunsch Sinatras Bill Miller am Flügel, und er harmonierte in jeglicher Hinsicht perfekt mit den hochkarätigen Solisten beider Bands, die inzwischen bereits Legendenstatus genossen.

Bill Miller selbst schrieb jetzt ebenfalls regelmäßig eigene Arrangements für Barnet, freilich in den meisten Fällen ohne dafür offizielle „credits“ zu bekommen, was damals eine gängige Praxis war. Zu den von ihm eingerichteten Stücken zählte etwa „Southern Fried“ (1940), aber auch auf anderen Aufnahmen Barnets (der damals beim Label Bluebird unter Vertrag stand) kann man seinen Stil noch heute ausmachen. Und 1941 stieß eine junge Sängerin zu Barnets Orchester, die von dort aus eine Weltkarriere startete: Lena Horne (*1917) machte mit Barnet (und Bill Miller am Klavier) auch ihre ersten eigenen Schallplattenaufnahmen, zum Beispiel „You’re My Thrill“ (1941). Außer als Solist konnte Miller auf diese Weise auch seine Fähigkeiten als Begleiter von Vokalisten weiter ausbauen.

Der Zweite Weltkrieg unterbrach Millers Karriere für einige Zeit; er diente zwar in einer Reihe verschiedener Militärkapellen, doch „große Namen“ wie Glenn Miller oder Artie Shaw waren nicht darunter. Immerhin konnte er aber weiterhin seinem Beruf nachgehen; Kampfeinsätze blieben ihm erspart. Nach Kriegsende kam Miller zunächst wieder bei Charlie Barnet unter und begleitete 1946 in dieser Funktion die Sängerin Martha Raye (1916-1994) bei einigen ihrer Studioaufnahmen. Doch die große Zeit von Barnets Orchester war inzwischen vorüber, und Anfang 1947 verabschiedete sich Bill Miller aus dem Ensemble.

Er war jetzt bekannt genug, um Gastspiele bei vielen anderen namhaften Orchestern zu bekommen. Mit Benny Goodman ging er auf Tournee, ebenso mit Tommy Dorsey. Viel herumgekommen sei er in diesen Jahren, sagte Miller später, und viele Freundschaften habe er geschlossen mit Kollegen, von denen er eine ganze Reihe dann später in Sinatras Studio-Orchestern wiedertraf. Daneben arbeitete er aber auch immer wieder unter eigenem Namen mit kleineren Combos – so wie im Spätsommer 1951, als er mit seinem Trio in der Lounge des „Desert Inn“ in Las Vegas auftrat. Und dadurch zur rechten Zeit am rechten Ort war für jene Begegnung, die seine gesamte weitere Laufbahn bestimmen sollte.

IV. You Go To My Head

Bill Millers erste Erfahrung mit „The Voice“ lag damals bereits ein gutes Jahrzehnt zurück.
„1940“, so erinnerte er sich später im Interview mit Will Friedwald, „traten wir [mit dem Charlie Barnet Orchestra] auf der World’s Fair [in Flushing vor den Toren New Yorks] auf, und eines Abends fuhr ich zusammen mit meiner damaligen Freundin im Auto in die Stadt. Im Radio spielten sie eine Aufnahme von Harry James, All Or Nothing At All“.
Wer der Sänger war, wußte Miller zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Seine Freundin tippte auf Dick Haymes, aber Miller sagte „Nein, so gut singt Haymes nicht!“. Dann nannte der Radio-Moderator den Namen: Frank Sinatra. „Das war das erste Mal, daß ich seinen Namen registrierte“, so Miller, „und ich dachte bei mir: Was für eine wunderbare Stimme!“

Umgekehrt hatte auch Sinatra zu diesem Zeitpunkt bereits von Bill Miller gehört – denn das „Mr & Mrs Swing Orchestra“ von Red Norvo war eine der absoluten Lieblingsbands des jungen Frank, und dabei fiel ihm natürlich auch die Klavierbegleitung auf, die dort zu hören war. Für sein gutes Gedächtnis bekannt, wußte Sinatra daher gleich Bescheid und zögerte keine Sekunde, als ihm Jimmy van Heusen 1951 nahelegte, es einmal mit Bill Miller am Klavier zu versuchen.

Sinatra trat damals gerade im „Riverside Inn“ in Reno, Nevada, auf, und hatte zuletzt mit wechselnden Pianisten gearbeitet, zum Beispiel mit Ken Lane (der sich dann aber ganz seiner Arbeit mit Dean Martin zuwandte), Bernie Leighton oder Graham Forbes. Es waren unruhige Zeiten für „The Voice“. Sein Stern am Musikhimmel begann ein wenig zu verblassen, und er war auf der Suche nach Veränderung, nicht nur im Privatleben, wo seine bevorstehende Hochzeit mit Ava Gardner für Schlagzeilen sorgte. Bill Miller schien ihm der geeignete Mann für sein Vorhaben, auch musikalisch neue Akzente zu setzen. Nach Millers Zusage regelte Sinatras Manager Hank Sanicola innerhalb weniger Tage alles Vertragliche, so daß Miller schon bei Sinatras Konzertdebüt im „Desert Inn“ in Las Vegas am 13. September 1951 mit von der Partie sein konnte, zusammen mit Charlie Hayes und seinem Orchester.

Sinatra hatte Miller zuvor angeboten, ihm die Partituren seiner Gesangsnummern in Kopie zu überlassen, um sich als neuer musikalischer Begleiter am Flügel besser einarbeiten zu können. Der Pianist aber winkte ab und entgegnete trocken, das sei überhaupt nicht nötig, er wisse, was er zu tun habe und man könne einfach sofort anfangen. „Ganz cool“ sei Miller da gewesen, erinnert sich Sinatras langjähriger Gitarrist Al Viola noch Jahrzehnte später an diese Szene, „das hat Sinatra wirklich ungeheuer beeindruckt“. Es war ein erstes Zeichen dafür, daß sich hier ein perfekt zueinander passendes Duo gefunden hatte.

Als dann Anfang Oktober 1951 Sinatras wöchentliche musikalische „Frank Sinatra Show“ auf CBS in ihre zweite Saison startete, bei der die Orchesterleitung nach wie vor in den Händen von Axel Stordahl lag, gehörte Bill Miller von Anfang an zum festen Ensemble. Für ihn war es das erste Engagement beim Fernsehen. Bald schon gab es in diesem Rahmen auch erste gemeinsame Duette, und bei schnelleren Nummern, wie sie damals vor allem George Siravo für Sinatra arrangierte, setzte Miller ebenfalls erste Akzente.

Am 7. Januar 1952 entstanden dann für Columbia Records in Hollywood die ersten gemeinsamen Studioaufnahmen: „I Could Write A Book“, „I Hear A Rhapsody“ und „Walkin‘ In The Sunshine“ hießen die Titel, bei denen Bill Miller Sinatra begleitete – und in der Tat könnte man heute ein ganzes Buch damit bestreiten, all die Aufnahmen aufzuzählen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hinzukommen sollten, bis zu Sinatras letzter Studiosession im Oktober 1993. Mehr noch – die Session von jenem Montag abend im Januar 1952 war der Auftakt einer Zusammenarbeit, die weit über das Plattenstudio hinausreichte und, so abgegriffen das Etikett auch erscheinen mag, Musikgeschichte geschrieben hat.

Am 8. Februar 1952 fand im Orpheum Theatre in San Francisco die Uraufführung von Sinatras neuestem Kinofilm „Meet Danny Wilson“ statt, an der auch Sinatra zusammen mit Ava Gardner und seinen Eltern teilnahm. Bei der Gala traten unter anderem TV-Legende Milton Berle und Bühnenstar Robert Preston („Victor/Victoria“) auf, und am Schluß gaben Sinatra und Bill Miller gemeinsam ein kleines Konzert, nur Gesang und Klavier. „Ungeheuer viel Spaß“ habe man dabei gehabt, so erinnerte sich Miller später an diesen Abend.

„Schwere Zeiten schweißen zusammen“ ist auch so eine abgegriffene Formel – aber wenn darin das eine oder andere Körnchen Wahrheit steckt, dann ist das Team Sinatra-Miller eines der Beispiel dafür. Denn ungeachtet der Tatsache, daß offenbar die „Chemie“ zwischen beiden von Anfang an stimmte, waren ihre ersten beiden gemeinsamen Bühnenjahre gleichzeitig die wohl schwierigste Periode in Sinatras langer Karriere. Nicht nur die Verkaufszahlen seiner Schallplatten gingen stetig zurück, auch der Publikumszuspruch bei seinen Konzerten hatte stark nachgelassen, und Columbia Records ließ durchblicken, seinen Plattenvertrag Ende 1952 auslaufen zu lassen.

Im April 1952 flogen Sinatra und Miller für eine Reihe von Konzerten nach Hawaii, zur „Kaua’i Country Fair“ – ohne Orchester. „Die Auftritte“, so erinnerte sich Miller später, „fanden nicht in einem Saal, sondern in einem wackeligen Zelt auf einer Wiese statt“. Manchmal seien nur ein paar Dutzend Leute dagewesen. Auch bei Sinatras Konzertwoche mit dem Orchester von Buddy Rich im New Yorker „Paramount Theatre“, ebenfalls im April 1952, war vom Massenansturm der Vierziger Jahre nicht mehr viel zu spüren. Gleiches galt für die Klubengagements, etwa im „Chez Paree“ in Montreal, im „French Casino“ in New York City, im „Latin Casino“ in Cherry Hill oder im „Desert Inn“ in Las Vegas (wo die beiden im Juli 1952 wieder zwei Wochen gastierten).
Sinatra habe sich aber, so resümmierte Bill Miller, davon nie beeindrucken lassen und „immer einhundertfünfzig Prozent“ gegeben.

Ein Jahr später sah es nicht unbedingt besser aus. Zwar hatte Sinatra inzwischen bei Capitol Records einen neuen, zunächst auf ein Jahr befristeten Plattenvertrag unterschrieben, und bei den ersten Aufnahmen im April 1953, bei denen sämtlich Bill Miller am Klavier saß, war „The Voice“ erstmals mit Nelson Riddle zusammengekommen, mit dem er bald viele seiner besten Alben produzieren würde. Auch hatte er nach zähem Ringen die Nebenrolle des „Maggio“ in „From Here To Eternity“ ergattert, die ihm seinen zweiten Oscar einbringen sollte.

Doch noch stand der Erfolg des neuen Konzepts beileibe nicht fest, als Sinatra Ende Mai 1953 zu seiner ersten ausgedehnten Europatournee aufbrach, die nach Italien, Belgien, Skandinavien und Großbritannien führte, vor Ort mit jeweils wechselnden Orchestern. Der Erfolg war zunächst mäßig; einige Konzerte in Schweden wurden sogar abgesagt. Aber immer dabei: Bill Miller am Flügel. Come rain or come shine.

Für diese so immens wichtige erste Phase des Duos gibt es kaum ein faszinierenderes Tondokument als eine Spezialausgabe der italienischen Radioshow „RAI Radio Club“, die am 20. Mai 1953 in der großen „Sala A“ der alten RAI-Studios an der Via Asiago in Rom aufgezeichnet wurde und gerade vor kurzem in einer opulent ausgestatteten CD („The Voice in Via Asiago“, EMI, Details siehe Anhang) herausgegeben worden ist. Drei wunderschöne Duette geben die beiden da zum besten: „September Song“, „Laura“ und „Night And Day“. Sie zeigen beispielhaft, wie kongenial sich Sinatra und Miller nach 17monatiger Zusammenarbeit mittlerweile bereits ergänzten – oder besser ausgedrückt, wie pointiert und unaufdringlich Millers Klavierspiel Sinatra bei seinen perfekten Interpretationen dieser Balladen unterstützte.

Millers vielfältige Erfahrungen als Begleitmusiker, die er in den knapp zwei Jahrzehnten zuvor hatte sammeln können, kommen darin ebenso zum Ausdruck wie seine Fähigkeit, Sinatras stimmliche Akzente mit „den richtigen Noten“ zu untermauern.
„Sinatra spürt immer, wie ein Song klingen muß“, sagte Miller später in der ihm eigenen Zurückhaltung, „da fällt das Begleiten leicht“. Tatsächlich aber steckten natürlich viele Stunden harter gemeinsamer Arbeit dahinter. Millers zeitlebens bescheidene Art, seinen Anteil daran nicht in den Vordergrund zu rücken, lassen solche Sätze umso nachhaltiger erscheinen.

Weitere Einblicke in das frühe gemeinsame Repertoire des neuen Gespanns ermöglicht eine Konzertaufzeichnung, die Ende Juli 1953 im Opernhaus des englischen Seebades Blackpool entstand (allerdings leider bis heute nur inoffiziell erschienen ist), im Rahmen von Sinatras mehrwöchigem Aufenthalt auf den Britischen Inseln. Begleitet wurde er vom lokalen Orchester von Billy Ternent, doch sein hochkarätiges Konzertprogramm war gespickt mit gleich mehreren Duetten mit Miller. Kerns und Hammersteins „Ol’Man River“ gehörte ebenso dazu wie „Embraceable You“ von den Gebrüdern Gershwin und „It Never Entered My Mind“ von Rodgers & Hart. Am besten gelungen aber ist vielleicht „You Go To My Head“, ein Stück aus dem Jahre 1938, das Sinatra bereits bei Columbia Records mit Erfolg eingespielt hatte, schon damals in kleiner Besetzung, jetzt nur begleitet vom „twinklin‘ piano“. Und zumindest aus der Rückschau meint man auch ein wenig herauszuhören, daß Millers Klavierspiel Sinatra Sicherheit gab, zu einem Zeitpunkt, als ihm durchgängig die gewohnte Souveränität noch fehlte.

Vier Wochen später war alles anders. Denn als Sinatra am 1. September 1953 ein zweiwöchiges Gastspiel in Paramus/New Jersey eröffnete, war sein neuer Film inzwischen in die amerikanischen Kinos gekommen, das Publikum strömte in Scharen, und auch die Kritiker waren begeistert. Niemand spürte besser als Sinatra, daß sein Comeback geglückt war, und nirgendwo ließ er das sein Publikum so deutlich merken wie bei seinen damaligen Auftritten im „Riviera“. Dessen Besitzer hieß ebenfalls Bill Miller (1904-2003), ein Namensvetter des Pianisten. Der Symbolik nicht genug, konnte dieser Nachtklub vor den Toren von Fort Lee, an der Küste direkt gegenüber von Manhattan, mit einer neuen technischen Errungenschaft aufwarten, nämlich einem aufklappbaren Dach, das bei schönem Wetter Freiluftkonzerte unterm Sternenzelt ermöglichte... was für eine Szenerie, um gegen Ende seiner Konzerte „From Here To Eternity“ anzustimmen. Was er Abend für Abend auch tat – als Duett mit Bill Miller.
Von nun an blieb Miller ein fester Bestandteil von Sinatras Erfolgsgeschichte. Und auch einen Spitznamen hatte Sinatra sich inzwischen für ihn ausgedacht. In ironischer Anspielung auf Millers stets auffallend hellen Teint hatte er ihn am Anfang zunächst „Moonface“ genannt, doch seit sich Miller während der Sommertournee 1953 bei einem Open-Air-Auftritt einmal einen Sonnenbrand zugezogen hatte, nannte Sinatra ihn „Sun Tan Charlie“, den Sonnengebräunten.

Jahrzehntelang kam Sinatra darauf bei praktisch jeder Gelegenheit zurück, wenn er dem Publikum seinen weißgesichtigen Pianisten vorstellte. Der ertrug die Scherze mit stoischer Gelassenheit, auch weil er wußte, daß Sinatra ihm auf seine Art im selben Atemzug stets ein großes Kompliment machte: „He is the best“.

V. Perfectly Frank: Perfectly Bill

V. Perfectly Frank: Perfectly Bill
Noch im Herbst 1953 startete Sinatra auf NBC eine neue, zweimal pro Woche ausgestrahlte Radioshow mit dem Titel „To Be Perfectly Frank“, mit der er parallel zu seinen Aufnahmen bei Capitol weitere neue musikalische Akzente setzte, an denen Bill Miller ganz maßgeblich beteiligt war. Miller stellte dafür eigens ein Quintett namens The Sinatra Symphonette zusammen, das in wechselnder Besetzung aus Klavier, Klarinette bzw. Konzertflöte, Gitarre, Baß und Schlagzeug bestand. Unter anderen waren Drummer Johnny Blowers und Sinatras Jugendfreund, der Gitarrist Tony Mottola, mit dabei.

Unter Millers Leitung, und zumeist auch mit ihm am Flügel (während bei einigen Stücken auch nochmals Graham Forbes diese Rolle einnahm), entstanden über 50 Aufnahmen speziell für die neue Sendung, jazzige Swinger ebenso wie Klavierballaden, darunter viele Stücke, die sonst gar nicht oder nur in ganz anderen Arrangements zu Sinatras Repertoire zählten. Viele kleine Meisterwerke sind darunter, in denen sich auch heute noch beispielhaft zeigt, wie gut Millers Klavierspiel in jedem Tempo zu Sinatras Stimme paßte.

Für seine Studioaufnahmen, die nun in rascher Folge bei Capitol entstanden und mit den beiden ersten Alben „Songs For Young Lovers“ (1953) und „Swing Easy“ (1954) einen legendär gewordenen neuen Sound hervorbrachten, hieß Sinatras Mann Nelson Riddle – und Riddle wiederum setzte konsequent auf Bill Miller am Klavier, der auf allen Einspielungen dieser Jahre zu hören ist. Die Zusammenarbeit mit Riddle gestaltete sich so erfolgreich, das Miller im Februar 1955 bei der ersten Session für das Album „In The Wee Small Hours“ dann erstmals selbst die Leitung der Aufnahmen im Studio übernahm, als Sinatra vier Lieder mit Quintettbegleitung einspielte: „Dancing On The Ceiling“, „Glad To Be Unhappy“, „Ill Wind“ und „Can’t We Be Friends“, allesamt musikalische Glanzlichter eines ohnehin legendären Albums.

Es gibt kaum eine Sinatra-Studioaufnahme der Fünfziger und Sechziger Jahre, auf der Bill Miller nicht prominente Spuren hinterlassen hat, und es ist unmöglich, sie alle im einzelnen zu würdigen – ein Blick auf die Liste der entsprechenden Alben (vgl. unten im Anhang) mag genügen. Von den „Saloon Songs“ wird gleich noch gesondert die Rede sein; an dieser Stelle sei zunächst exemplarisch an einige der vielen andere Stücke erinnert, denen Miller seinen Stempel aufdrückte, zum Beispiel mit pointierten Soli oder Einleitungen: Bei Capitol etwa „Pennies From Heaven“ (aus „Songs For Swinging Lovers“, 1956) oder „The Lonesome Road“ (aus „A Swingin’Affair“, 1956), „The Lady Is A Tramp“ (1956) oder „Bewitched“ (1957), „Ol’Mac Donald“ (1960) oder „As Time Goes By“ (aus „Point Of No Return“, 1961), und besonders die Balladenfassung von „Where Or When“ (1958), das fast zur Gänze ein Duett mit Miller ist. Alle drei Hauptarrangeure Sinatras aus dieser Zeit, neben Riddle Gordon Jenkins und Billy May, griffen auf Miller zurück.

Als Sinatra im Dezember 1960 sein eigenes Label Reprise Records ins Leben rief, war Bill Miller ebenfalls von Anfang an dabei – auch, als im Oktober 1962 Sinatras langgehegter Wunsch in Erfüllung ging, ein gemeinsames Album mit Count Basie aufzunehmen. Neal Hefti schrieb die Arrangements, in denen natürlich das Piano eine gebührende Rolle spielte – bei einigen Tracks, wie bereits kurz erwähnt, saß aber Bill Miller an den Tasten, der auf seine bei Charlie Barnet gewonnene Erfahrung mit Basies Stil zurückgreifen konnte. Auch beim zweiten Basie-Album („It Might As Well Be Swing“, 1964), das Billy Byers und Quincy Jones arrangierten, war das so.

„Manchmal wollte Basie lieber [beim Toningenieur] in der Aufnahmekabine dabeisein“, so erinnerte sich Miller an die Sessions, „und dann habe ich gespielt“. Für Sinatras von Billy May arrangiertes Album mit Duke Ellington („Francis A & Edward K“, 1967) bestritt Bill Miller sogar den Löwenanteil der Aufnahmen (neben dem ebenfalls beteiligten Pianisten Jimmy Jones) und konnte auf diese Weise seine Vielseitigkeit als Jazzpianist voll entfalten.

Ähnlich wichtig wie für die Schallplatten wurde Bill Miller für Sinatras Fernsehproduktionen dieser Jahre. Die wöchentliche „Frank Sinatra Show“ etwa, die 1957/58 auf ABC ausgestrahlt wurde, enthielt eine ganze Reihe von Stücken, die Sinatra alleine mit Miller im Studio vorproduziert hatte, bevor Nelson Riddle den Orchestertrack dazu einspielte. Immer wieder waren auch herausragende Duette der beiden zu hören, allen voran „Ol’Man River“, das Sinatra etwa im TV-Special „A Man & His Music + Ella + Jobim“ (1967) begleitet von Miller in einer Weise interpretierte, die dem Meisterstück mit Riddle von 1963 in nichts nachstand.

Außerhalb der Aufnahmestudios war Bill Miller erst recht eine feste Größe. Schon im Januar 1955 begleitete er Sinatra auf dessen erster Australien-Tournee, und als sich Sinatra Anfang 1959 einen langgehegten Wunsch erfüllte und mit Red Norvo auf Konzertreise ging, war Miller als Verstärkung für das Quintett seines ehemaligen Arbeitgebers selbstverständlich mit von der Partie. Mit Sinatras Repertoire inzwischen so vertraut wie kein Zweiter, bildete Miller dabei das Verbindungsglied zwischen „The Voice“ und Norvos Sound – das Ergebnis kann man zum Beispiel auf dem fabelhaften Album „Live In Australia“ (Capitol/Blue Note) genießen.

Als Sinatra im Frühjahr 1962 eine große Benefiz-Welttournee startete, Norvos Quintett jedoch dafür aufgrund anderer Verpflichtungen nicht zur Verfügung stand, formte Bill Miller kurzerhand ein eigenes Sextett, um „The Voice“ bei insgesamt 30 Konzerten in Mexiko, Japan, Südkorea, Hongkong, Griechenland, Israel, Italien, Großbritannien, Frankreich und Monaco zu begleiten. Zwei Konzertalben, mehrere Fernsehaufzeichnungen und eine Reihe spezieller Studioaufnahmen für den italienischen Fernsehsender RAI dokumentieren diesen Höhepunkt gemeinsamer Arbeit.

Für Frank Sinatra war Bill Miller aber weit mehr als „nur“ Begleitmusiker im Studio und auf der Bühne – aus den vielen Jahren engster Zusammenarbeit erwuchs ein Vertrauensverhältnis, wie es sonst wohl kein anderer Musiker zu Sinatra hatte. Mit Interviews war Miller zeitlebens äußerst zurückhaltend; doch dem englischen Journalisten Les Tomkins gewährte er in den Siebziger Jahren einige Einblicke hinter die Kulissen, die Millers Bedeutung recht gut illustrieren.

„[Sinatra] ist ein absoluter Perfektionist“, so Miller, „selber Noten lesen kann er aber kaum. Er kann bestimmte Noten auf dem Papier erkennen, aber flüssig vom Blatt singen kann er nicht. [Dafür] hat er ein phantastisches Gehör, beim Singen erkennt er jede Note genau und weiß, wo sie hingehört. Frank ist einer der ganz wenigen Sänger, der nur sehr, sehr selten nicht den richtigen Ton trifft (...). Wenn es um neue Songs geht, spiele ich ihm deswegen immer die Melodie zuerst am Klavier vor, und dann proben wir zusammen. Er lernt sehr schnell; nur bei ungewöhnlich schwierigen Stücken braucht er etwas länger (...) und dann probiert er es so lange, bis alles stimmt.“

Auch bei der Auswahl der Lieder für neue Aufnahmen oder für Konzertprogramme „fragt [Sinatra] mich gelegentlich um Rat“, so Miller weiter. Er versuche dann, entsprechende Tips zu geben. „Die letzte Entscheidung trifft aber immer Frank. Er sagt dann: ‚OK, so machen wir es!‘, oder aber läßt das Stück beiseite (...) Es sind meist seine Ideen, die wir umsetzen“.

Seine eigene Rolle überbetonen mochte Miller aber nicht. „Ach wissen Sie, ich begleite ihn eben einfach seit all den Jahren. Und manchmal übernehme ich auch die Orchesterleitung, dann spiele ich nur bei einigen Stücken am Klavier, bei den Balladen oder vielleicht auch ein bis zwei der anderen Lieder, damit ich mich zwischendurch mal hinsetzen kann...“

Wie sehr Sinatra auf Miller baute und vertraute, zeigt auch ein anderes Detail, das Miller im Gespräch mit Tomkins eher beiläufig erwähnte. „Frank zahlt mir monatlich ein festes Gehalt, unabhängig davon, ob und wieviel wir arbeiten (...) Er möchte, daß ich jederzeit verfügbar bin“.
Das war zweifellos ein Arrangement, von dem beide Seiten gleichermaßen profitierten – und das auch während Sinatras kurzlebigem Rückzug vom Showgeschäft 1971-1973 in Kraft blieb. So blieb Miller finanziell unabhängig, arbeitete gelegentlich als Studiomusiker für andere Künstler oder im Fernsehen.

Sinatras „Retirement“ habe ihn damals nicht überrascht, so Miller. „Er hatte mich und einige andere Leute darüber informiert (...) Ich habe aber nie geglaubt, daß er seinen Beruf wirklich an den Nagel hängen wollte – dafür arbeitete er viel zu gerne. Und im übrigen, wie lange kann man schon die Zeit mit Reisen oder Golfspielen totschlagen?“
Ein wenig gelangweilt habe er, Miller, sich schon in dieser Zeit, und sich daher sehr darüber gefreut, als Sinatra beschloß, wieder zu arbeiten. „Nach zwanzig Jahren“, sagte Miller 1975, „kenne ich ihn einfach. Ich mag, wie er arbeitet, und ich mag es, mit ihm zu arbeiten“.

Das Album „Sinatra-Jobim“ (Reprise 1967) zitierte Bill Miller mehrfach als einen seiner absoluten Favoriten. „Es war Franks Idee, das Album zu machen (...) und es gelang meisterhaft. Hier stimmt einfach alles“. Bescheiden verschwieg er dabei stets, daß dazu auch er selbst am Klavier entscheidend beigetragen hatte. Im übrigen aber sei „In The Wee Small Hours“ (1955) immer eins seiner Lieblingsalben mit Sinatra geblieben, so Miller, der dabei seine ersten beiden Jahrzehnte an Sinatras Seite recht differenziert beurteilte.

„Was Franks stimmliche Qualitäten anbelangt“, meinte Miller 1970, „so denke ich, er klingt heute mindestens genauso gut, vielleicht sogar besser, als sagen wir vor 15 Jahren. Seine Stimme ist reifer geworten, und auch seine Fähigkeit zu swingen hat sich verstärkt“.
Vor allem vielseitiger sei The Voice im Laufe dieser Zeit geworden:
„Nelson [Riddle] würde ich nicht per se als ‚Jazz-Arrangeur‘ bezeichnen“, erläuterte Miller, „schon eher Neal Hefti, Billy May oder Johnny Mandel (...)“.
Sinatra habe sich nicht auf einen bestimmten Sound einengen lassen wollen:
„Ein Album mit Nelson, dann etwas mit Gordon Jenkins, dann mal mit Neal Hefti oder Quincy Jones oder Don Costa: [Sinatra] beschäftigt sich mit allem, in dem richtige Musik steckt (...) Er versucht auch, modernere Songs auf seine Weise zu interpretieren. Einige davon passen zwar meiner Meinung nach nicht besonders gut zu ihm – andererseits, man kann es nunmal nicht allen recht machen!“
Die Siebziger Jahre sahen Bill Miller vor allem in der Rolle als Sinatras Orchesterleiter (etwa beim „Main Event“ 1974), zumal als Don Costa im Anschluß an Sinatras Konzert in Frankfurt im Mai 1975 einen ersten schweren Herzinfarkt erlitt und dementsprechend kürzer treten mußte. Gegen den Vorwurf, Sinatras „Rücktritt vom Rücktritt“ sei ein Fehler gewesen, weil der Sänger stimmlich nicht mehr auf der Höhe sei, nahm er ihn dabei deutlich in Schutz und konnte dabei entgegen seiner sonstigen Gelassenheit auch recht energisch werden.

„Ganz klar: All denen, die behaupten, [Sinatras] Zeit sei vorbei, kann ich ganz und gar nicht zustimmen. Wir haben einige Lieder, aber beileibe nicht alle, in eine etwas tiefere Tonlage gelegt, eine ganz normale und natürliche Angelegenheit. Ich sage nicht, daß es keine Abende gibt, an denen er das eine oder andere Problem mit seiner Stimme hat, aber das ist dann nur eine kurzzeitige Sache. Und er drückt sich auch nicht vor schwierigen Stücken (...) [Seine Interpretationen] sind heute [1975] so gut wie seit Jahren nicht mehr, und er arbeitet hart.“

Einseitiges Apologetentum lag Miller dabei fern. „Ich kann verstehen, wenn jemand sagt, mir gefällt [Sinatras] Gesang nicht: Jedem seine Meinung... Aber was da alles so geschrieben wurde, zum Beispiel über sein Äußeres, das geht unter die Gürtellinie (...) Konstruktive Kritik kann und muß jeder aushalten, Gehässigkeiten hingegen nicht (...) Er möchte noch viele Jahre weitermachen, und das wird er denke ich auch tun. Warum sollte er auch nicht? Und sei es nur, um seinen Kritikern zu beweisen, wie falsch sie liegen!“

Miller sollte recht behalten: Die späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre wurden für Sinatra eine künstlerische Erfolgsgeschichte in jeglicher Hinsicht. „The Chairman Of The Board“ ließ reihenweise Zuschauerrekorde purzeln, feierte Triumphe in der New Yorker Carnegie Hall oder der Londoner Royal Albert Hall, und seine Hymne über „New York, New York“ (1979) wurde zum Symbol für diesen erneuten Höhepunkt. Bill Miller selbst aber war in diesen Jahren nicht dabei.

Im Herbst 1977 hatte Sinatra Vincent Falcone jr. als neuen regelmäßigen Konzertpianisten verpflichtet. Mit seiner reinen Dirigentenrolle war Miller zunehmend unzufrieden, und als Sinatra dann im Sommer 1978 erstmals auch bei einer Studiosession auf Falcone als musikalischen Leiter zurückgriff, trennte sich das Duo für einige Zeit. Das geschah nicht unbedingt in Frieden, aber ohne daß es dadurch zu einem dauerhaften Zerwürfnis gekommen wäre. Denn Miller wußte nur allzu gut, daß Sinatras Persönlichkeit auch ihre schwierigen Seiten hatte.

„Er kann manchmal sehr kompliziert sein, aber irgendwie sind wir das alle, oder nicht? Es hat immer mal Zeiten gegeben, in denen ich böse auf ihn war, und es hat Zeiten gegeben, in denen er auf mich wütend gewesen ist“, so faßte er es zusammen. „Meistens aber haben wir uns prima vertragen. Ich respektiere ihn, und um es mal ganz allgemein zu formulieren: Ich mag ihn als Mensch so, wie er ist“.

Im Frühjahr 1986 kamen „The Voice“ und „Sun Tan Charlie“ wieder zusammen, und sie blieben es bis zu Sinatras letztem Konzertauftritt im Februar 1995. Es war auch eine Rückkehr zu den Wurzeln ihrer gemeinsamen Arbeit, denn nachdem Frank Junior 1988 die ständige Leitung von Sinatras Konzertorchester übernommen hatte, konnte sich Bill Miller wieder ganz auf das beschränken, was er schon immer am liebsten tat: Das Klavierspielen. Zwei Welttourneen (1988/89 und 1990/91) und zahllose weitere internationale Konzertreisen bestritten die beiden noch gemeinsam; im Sommer 1993 waren sie auch in Deutschland nochmals zusammen auf der Bühne zu sehen.

Und alles war wie immer, wenn Frank ihn dem Publikum vorstellte: „Dieser junge Mann“, sagte Sinatra 1993 in Köln, und mußte über diese Bezeichnung selber lachen, „ist seit all den langen Jahren an meiner Seite“. Früher habe Miller wunderbar schwarzes Haar gehabt. „Six months of working with me, he went white!“

Zwei in Ehren ergraute „alte Herren“: Am 25. Februar 1995, drei Wochen nach Millers 80. Geburtstag, standen sie zum letzten Mal zusammen auf der Bühne, im „Marriott’s“ in Palm Springs. Es war ein Kurzkonzert im Rahmen der Gala zu Sinatras jährlichem Benefiz-Golfturnier, und es wurde Frank Sinatras Abschied von der Bühne. Sechs Lieder. Das letzte davon war „The Best Is Yet To Come“, aus dem zweiten Album mit Count Basie. Das Arrangement von Billy Byers beginnt mit einer Solo-Einlage des Pianisten. Miller plays Basie: Pointierter hätte ihr letzter gemeinsamer Vorhang nicht ausfallen können.

VI. Frank & Bills Saloon

Lang ist die Liste der Klavierballaden, die Miller und Sinatra im Laufe der Zeit zu Klassikern machten, angefangen mit den Liedern des Albums „In The Wee Small Hours“ (Capitol 1955), und viele davon sind zu „signature songs“ von The Voice geworden. Und wenn Sinatra sich selbst auf der Bühne immer wieder als „Saloon Singer“ bezeichnete, dann beruhte sein entsprechendes Repertoire ganz wesentlich auf Bill Millers kongenialer Begleitung.

Viele Lieder haben die beiden auf der Bühne als Duette bestritten, teils über Jahrzehnte hinweg. „All The Way“ etwa, Sinatras Oscar-Gewinner von 1957, war in dieser Form noch 1986 atemberaubend. Rodgers & Harts „It Never Entered My Mind“ gehört dazu, ebenso wie Kurt Weills „September Song“ und manch andere. Miller begleitete Sinatra auch auf dem Album „A Man Alone“ (1969). Im Februar 1976 nahmen die beiden bei Reprise Records eine gemeinsame Single auf, Sinatras einzige Platte ausschließlich mit Piano, und die beiden Stücke darauf, Johnny Mercers „Empty Tables“ und Stephen Sondheims „Send In The Clowns“, gehören zu den schönsten Aufnahmen des späten Sinatra, die in dieser Form auch live nie ihre Wirkung verfehlten.

Als *das* „Saloon-Album“ schlechthin aber gilt „Frank Sinatra Sings For Only The Lonely“ (Capitol 1958), und natürlich war Bill Miller bei den Aufnahmen dabei. Viele Stücke daraus blieben über Jahrzehnte im Programm, wie „Guess I’ll Hang My Tears Out To Dry“, ganz besonders aber die beiden Lieder, die Sinatra selbst oft als „The Daddy of all Saloon Songs“ bezeichnete und die ohne Millers Klavierspiel kaum denkbar scheinen: „Angel Eyes“ und „One For My Baby“. Hört man ihren gemeinsamen Aufnahmen dieser Klassiker aus vier Jahrzehnten zu, dann möchte man glauben, die Stücke seien genau für dieses Team geschrieben worden, so sehr haben die beiden sie sich zu eigen gemacht. Ein umso bezeichnenderes Schlaglicht auf die Genialität des Duos und Sinatras meisterhafte Interpretationskunst wirft daher die Tatsache, daß in Wirklichkeit keines der beiden Lieder für Sinatra geschrieben worden ist.

Als Harold Arlen (1905-1986) und Johnny Mercer (1909-1976) „One For My Baby“ zur Jahreswende 1942/43 komponierten, hieß der Adressat nämlich Fred Astaire (1899-1987). Dessen Bedeutung als Sänger wird häufig unterschätzt bzw. von seiner bis heute unerreichten Tanzkunst überlagert, doch hat Astaire so viele Evergreens des Great American Songbook als erster gesungen wie kaum ein zweiter Künstler, und er war der Favorit vieler Komponisten der Dreißiger und Vierziger Jahre, etwa von Cole Porter, der für ihn sein „Night And Day“ verfaßte. „One For My Baby“ entstand für das Filmmusical „The Sky’s The Limit“ (RKO 1943, Regie: Edward H. Griffith), und Astaire zog bei der von ihm selbst choreographierten Nummer dann alle Register seines tänzerischen und stimmlichen Könnens, tanzte den traurig in der leeren Bar kurz vor Toreschluß seinem Liebeskummer nachhängenden Verlassenen mit solcher Kraft, daß er sich bei der Szene sogar an den Scherben des zerbrochenen Whiskyglases Schnittwunden an Knöcheln und Schienbein zuzog (und trotzdem zu Ende drehte).

Fünf Jahre später stand das Lied dann im Mittelpunkt einer weiteren, nicht weniger berühmt gewordenen Filmszene, nämlich in dem klassischen film noir „Road House“ (20th Century Fox 1948, Regie: Jean Negulesco). An der Seite von Richard Widmark spielte hier Ida Lupino (1914-1995) eine Barsängerin, und „One For My Baby“ ist einer ihrer Songs, mit verrauchter Stimme vorgetragen im alkoholgeschwängerten Ambiente einer etwas heruntergekommenen Pianobar. Die Szene wurde stilbildend und beeinflußte viele spätere Fassungen des Liedes, vor allem die von Marlene Dietrich (am besten zu hören auf ihrem Album „Live At The Café de Paris“).
Bereits im August 1947 hatte auch Frank Sinatra für Columbia Records das Lied bereits eingespielt, arrangiert von Axel Stordahl; die Aufnahme kam 1949 auf seinem Album „Frankly Sentimental“ heraus. Gelegentlich sang Sinatra das Stück dann auch in einer langsameren Version, in der das Klavier bereits eine prominente Rolle spielte.

Die Fassung, in der „One For My Baby“ bis heute um die Welt geht, entstand aber dann erst, als Bill Miller zu Sinatra gestoßen war. Erstmals bei der Europatournee 1953 erklang ihr gemeinsames Duett mit der unverkennbaren, von Miller selbst konzipierten instrumentalen Einleitung. Im September 1953, als Sinatra und Miller das Stück im „Riviera Club“ vortrugen, saß eines Abends auch Komponist Arlen selbst im Publikum – was er zu hören bekam, verschlug ihm die Sprache. „Arlen war ganz aufgeregt“, so erinnerte sich Miller später. Dabei sei die neue Fassung doch „eher zufällig“ zustande gekommen, „wir haben etwas rumprobiert und es dann einfach mal ins Programm genommen“. So also werden Klassiker geboren...

Im August 1954 entstand eine erste gemeinsame Studioaufnahme von „One For My Baby“, für den Soundtrack von Sinatras Kinofilm „Young At Heart“. Offiziell hieß der Pianist André Previn, doch für Sinatras Nummern saß Bill Miller am Flügel. Das Ergebnis war, wie man heute nachhören kann, eigentlich schon perfekt. Doch Sinatra verfeinerte seine Interpretation weiter, sang es im Radio, bei Konzerten und auch in seiner Fernsehshow. Und schließlich reiften Pläne, das Stück nun auch bei Capitol Records einzuspielen, für das erwähnte Album „Sinatra Sings For Only The Lonely“.

Teilweise begleitet von Nelson Riddles Orchester, entstand die Aufnahme am 25. Juni 1958 – in einem Take. Viereinhalb Minuten für die Ewigkeit, ohne lange vorherige Probe. Nur am Abend zuvor, am Ende einer langen Aufnahmesession mit anderen Liedern für das Album, hatten Miller und Sinatra „noch mal eben schnell“ ohne Orchester einen Duett-Take gemacht, der gar nicht zur Veröffentlichung gedacht war, sondern als ‚Orientierungshilfe‘ für die tags darauf geplante Session. (Diese Aufnahme wurde erst Ende der Achtziger Jahre wiederentdeckt und erschien 1990 auf einer CD-Box.)

In seinen Konzerten blieb Sinatra auch weiterhin vorwiegend bei der Piano-Duett-Fassung, die spätestens seit „Only The Lonely“ zum Klassiker und Publikumsliebling geworden war. So durfte der Song natürlich auch auf Sinatras erstem Live-Album „Sinatra At The Sands“ (1966) nicht fehlen, und wie selbstverständlich machte dabei der große Count Basie für diese Nummer am Klavier Platz für Bill Miller. Im November 1970 ernteten beide in der Londoner Royal Festival Hall minutenlange Begeisterungsstürme des Publikums, als „The Voice“ seine, von der schauspielerischen Untermalung her, vielleicht beste Live-Version ablieferte.

Am 27. Juni 1976 stand Sinatra auf der Konzertbühne in Palm Springs, und kaum jemals dürfte ihm „One For My Baby“ so schwergefallen sein wie an diesem Abend. Am Tag zuvor war Johnny Mercer gestorben, der Textdichter des Liedes, mit dem Sinatra seit Jahrzehnten eine enge persönliche Freundschaft verbunden hatte, und so verzichtete er auf seine übliche Einleitung und widmete das Stück seinem toten Freund. Sinatra sang es noch trauriger, noch emotionaler als sonst, und am Ende versagte ihm die tränenerstickte Stimme, als er der „long long road“ ein „that’s for Johnny Mercer“ hinterherschieben wollte. Einen bewegenderen „privaten Moment“ Sinatras in der Öffentlichkeit hat es wohl nicht gegeben. Am Klavier: Bill Miller.

Und so ist es auch in den Achtziger und Neunziger Jahren geblieben. Sinatras fortschreitendes Alter ging an seiner Interpretation gerade dieses Songs spurlos vorüber, mehr noch: Je älter Sinatra wurde, umso emotionaler und ergreifender klang sein tieftrauriger Monolog des Verlassenen, der seinen Kummer im Whisky ertränkt und sich dann um kurz vor Drei auf den Heimweg macht, der ins nirgendwo führt. Das kann man auch immer wieder aufs Neue auf der Studioaufnahme erleben, die Sinatra und Miller im Juli 1993 für Capitol einspielten, wieder in einem einzigen Versuch, vierzig Jahre nach ihren ersten gemeinsamen Versionen des Stücks.

Auch die Geschichte von „Angel Eyes“ reicht vor Sinatras erste Einspielung zurück. Während man auch in der Literatur oft 1953 als Entstehungsjahr lesen kann, komponierte Matt Dennis (1914-2002) die Melodie tatsächlich bereits Ende 1946. Earl Brent (1914-1977) schrieb dazu einen Text, der zunächst den Titel „Have Another Beer On Me“ trug. Ganz zufrieden waren die beiden mit dem Ergebnis jedoch nicht – „wir probierten ein wenig damit herum“, so erinnerte sich Dennis später in einem Interview, „und schließlich kam Earl mit einem veränderten Text, der uns besser gefiel“: „Angel Eyes“ war geboren.

Die erste kommerzielle Studioaufnahme von „Angel Eyes“ machte dann Herb Jeffries, der 1939-1943 als Sänger des Duke-Ellington-Orchesters international bekannt geworden war. Zwar behielt er „Angel Eyes“ über Jahrzehnte im Programm (und spielte es später auch nochmals ein), doch seiner Erstaufnahme von 1947 war kein gutes Schicksal beschieden: „Das kleine Plattenlabel, wo Herb die Aufnahme herausbrachte, ging Pleite“, erinnert sich Dennis, „und die wenigen verkauften Singles verschwanden in der Versenkung“.

Prominenter war dann schon die Studioaufnahme, die Nat King Cole 1952 für Capitol Records einspielte, arrangiert von Nelson Riddle. Sie erschien jedoch nur als Rückseite der Single „Return To Paradise“, mit der Cole einen Millionenhit landete, und blieb daher in deren Schatten. Den Durchbruch für „Angel Eyes“ bescherte dann aber noch im selben Jahr Ella Fitzgerald, zunächst mit einer Live-Aufnahme aus dem legendären „Birdland“ in New York City vom 7.6.1952, begleitet von einem exquisiten Jazzquintett, wenig später dann auch im Studio. Daß „Angel Eyes“ bald zu einem Standard des Jazz geworden ist, war daneben vor allem zu verdanken, der das Stück 1954 gleich zweimal einspielte.

Im Gegensatz zu „One For My Baby“ war „Angel Eyes“ auf „Only The Lonely“ 1958 Sinatras erste Aufnahme des Stücks, doch genau wie ersteres sang er es fortan zumeist als Duett mit Bill Miller am Piano, und die Intensität, mit der er das tat bis ans Ende seiner Karriere tat, stand seinen Darbietungen von „One For My Baby“ in nichts nach. Bei Sinatras letzter Studiosession im Oktober 1993 spielte er das Stück gemeinsam mit Miller auch nochmals ein; die Aufnahme ist leider bislang nicht herausgekommen.

Beiden Stücken gemeinsam ist aber vor allem die grandiose Inszenierung auf der Konzertbühne, die zweifellos zu den größten Momenten in der Geschichte des Entertainments gezählt werden muß, und die bis zum Schluß ihre Wirkung nie verfehlte. Mit den ersten Klängen von Millers Klavier wurde die Bühne in bläulichen Halbschatten getaucht, während Sinatra sich einen Barhocker zurechtschob und sich eine Zigarette anzündete und den Konzertsaal in eine Bar verwan
elte, in der dann die in beiden Fällen legendär gewordenen Eingangsverse erklangen:
It’s a quarter to three / there’s no one in the place / except you and me...
Oder: Hey, drink up, all you people / order anything you see / have fun, you happy people / the drinks, and the laughs on me...

Nie war Sinatra mehr er selbst, der „loner“ mit Hang zur Depression, als den er sich selbst oft charakterisiert hat, als bei diesen Liedern. Und nie verschmolz seine Stimme stärker mit Millers Piano als bei diesen beiden Stücken. Bei den letzten Zeilen bewegte sich Sinatra dann meist in Richtung Bühnenausgang, der Spot verlosch langsam. One more for the road, that long, that long..., oder Excuse me, while I disappear..., ein paar letzte Töne vom Piano, und ein letzter Zug an der Zigarette... dann war es dunkel. Und meist dauerte es einige Sekunden, bevor sich im Publikum die Spannung in der fälligen Ovation entlud.

Als Sinatra im Juni 1971 sein Abschiedskonzert vor seinem geplanten Rückzug gab und den Auftritt mit seiner wohl besten Version von „Angel Eyes“ aller Zeiten (mit Bill Miller am Klavier) beschloß, schrieb der Kritiker Thomas Thompson: „It was the single most stunning moment I have ever witnessed on a concert stage“.

Noch zwei Jahrzehnte lang konnte man dies erleben – erst im November bzw. Dezember 1994 schloß Frank und Bills Saloon mit diesen beiden Liedern für immer seine Pforten.

VII. You’ll Never Walk Alone

Mit Interviews ist Bill Miller zeitlebens sehr sparsam gewesen. Er spiele eben lieber Klavier als große Worte zu machen, hat er einmal gesagt. Und was Sinatra und seine Musik betraf, meinte er, man solle doch einfach die Platten anhören, „die erzählen die ganze Geschichte“. Wenn, dann gehörte Sinatra in den Mittelpunkt, und nicht der Mann am Klavier.

Diese natürliche Bescheidenheit zeigt auch eine Szene vom Eröffnungskonzert der Deutschlandtournee in Dortmund 1993. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn des Konzerts betrat Bill Miller die noch im Dunkeln liegende Bühne, mit einem Stapel Partituren unter dem Arm, den er auf dem Konzertflügel deponierte. Von den wenigen Besuchern, die sich bereits in der Westfalenhalle und vorne in Bühnennähe befanden (darunter der Verfasser dieser Zeilen), gab es Applaus. Miller aber winkte ab: „Sie irren sich – ich bins nur. Ich bin derjenige, der nachher ein wenig auf den Tasten hier herumklimpert“. Sprachs und verschwand genauso unauffällig wieder hinter dem Vorhang, wie er gekommen war.

Über sein Privatleben hat Bill Miller noch seltener gesprochen als überhaupt über sich und seine lange Karriere. Gerne widme er sich seiner großen Plattensammlung, erzählte er Les Tomkins, und natürlich habe er auch alle Platten von Sinatra. Daneben klassische Klavierkonzerte, Rachmaninoff sei einer seiner Favoriten. Auch moderne Stücke höre er gelegentlich, „ich mag alle Sorten von Musik, wenn sie gut ist... aber mein Herz gehört den alten Melodien, der Musik von Basie und den anderen“. Viele Stunden verbringe er auch daheim am Klavier.

Doch gerade der dunkelste Punkt seines Lebens war ebenfalls eng mit Sinatra verbunden, und das ist eine Geschichte, die man nicht auf den Platten hören kann.

Als Bill Miller Anfang der Vierziger Jahre mit Charlie Barnet in Atlantic City auftrat, traf er dort die Liebe seines Lebens: Aimée hieß die junge Dame, an die er sein Herz verlor. Bald darauf wurde geheiratet, und Tochter Meredith wurde geboren. Die junge Familie lebte dann in einem kleinen Haus am Rande eines Hügels in Kalifornien.

Dort kam es 1968 zu einer Tragödie: Nach tagelangen Regenfällen begrub eine riesige Schlammlawine das Anwesen innerhalb weniger Sekunden. Tochter Meredith gelang es im letzten Moment, sich auf die nahegelegene Anhöhe zu flüchten. Ihre Eltern aber wurden von den Wasser- und Geröllmassen begraben und fortgerissen.

Bill Miller gelang es irgendwie, sich an einem Autowrack festzuklammern. Die herbeigeeilten Rettungskräfte fanden ihn ganz am anderen Ende der Straße, mit schwersten Verletzungen wurde er geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Als er dort zwei Tage später aufwachte, stand Frank Sinatra neben seinem Krankenbett.
„Man hat sie heute gefunden“, habe Sinatra zu ihm gesagt. Sinatra selbst hatte Aimée Millers Leichnam identifiziert und darauf bestanden, seinem Freund die schlimme Nachricht persönlich zu überbringen. Vielleicht, so habe Sinatra ergänzt, sei es ein kleiner Trost, daß sie äußerlich unversehrt gewesen sei.
„Es war kein Trost“, setzt Miller hinzu, als er sich im Juli 2006 an die Szene erinnert.

Lange Wochen verbrachte Miller im Krankenhaus, und Frank Sinatra kümmerte sich um alles. Er ließ die besten Ärzte kommen und bezahlte deren Rechnungen. Er kaufte für Bill und seine Tochter ein neues Haus und richtete es komplett ein. Er ersetzte die Plattensammlung, die Noten und Instrumente, alles auf eigene Kosten. So half er seinem Freund, wieder auf die Beine zu kommen und den Schicksalsschlag einigermaßen zu verkraften. Und so bald es ging, standen die beiden wieder gemeinsam auf der Bühne.

„The Old Man“, sagt der ergraute Pianist im Juli 2006, „he was very good to me.“
Bill Miller hat nie wieder geheiratet.

VIII. One More For The Road

1995 nahm Frank Sinatra für immer Abschied von der Bühne. Und Bill Miller, sein Gefährte, ging nach Hause. Tochter und Enkel wohnten nicht allzuweit entfernt, aber die meiste Zeit sei er einfach alleine gewesen. „Es gab nicht viel zu tun für mich“, sagte er. 1997 beteiligte er sich gemeinsam mit einigen anderen alten Gefährten an einem Instrumentalalbum, das sie The Voice zum Geschenk machten: „The Chairman’s Board Salutes Sinatra“. Seine schönste Aufnahme daraus ist „In The Wee Small Hours“, als Duett mit Al Viola an der Gitarre.

Nicht allzulange nach Frank Sinatras Tod 1998 klingelte dann das Telefon. Am anderen Ende der Leitung: Frank Sinatra. Junior. Ob er nicht wieder auf Tournee gehen wolle mit ihm. „Na, was antwortet man da, wenn man Pianist von Beruf ist?“, schmunzelte Miller später darüber. „Frank said to me: ‚Let’s go!‘, and I said: ‚OK!‘“

Natürlich sagte er auch zu, weil er wußte, daß Sinatra Juniors Big-Band aus vielen seiner alten Weggefährten bestand, und seine Konzertprogramme viele Originalarrangements aus dem Repertoire von „Big Frank“ beinhalteten. Den Sound lebendig zu erhalten, war Miller immer sehr wichtig gewesen. „Die Musik muß gespielt werden“, so lautete sein Motto, „wenn sie leben soll“.
Sinatra Junior umgekehrt brachte es so auf den Punkt: „Einen besseren Begleiter als ihn gibt es für einen Sänger wie mich nicht“.

Und so ging der Mann am Klavier wieder auf Reisen, meist durch die USA, gelegentlich aber auch ins Ausland; so war er vor einigen Jahren auch nochmals in England zu bewundern. Robbie Williams holte Bill Miller 2000 für sein Album „Swing When You’re Winning“ als Stargast ins Aufnahmestudio – der Song: One For My Baby. Das Lied war auch fester Bestandteil von Juniors Konzerten, und als Millers Gesundheit es nicht mehr zuließ, ein ganzes Programm am Klavier zu begleiten, bat ihn Sinatra für dieses eine Stücke doch immer noch auf die Bühne. Ein anderer kam dafür einfach nicht in Frage.

Das Publikum dankte es ihm mit regelmäßigen Ovationen. Nicht nur, weil sein Spiel immer noch makellos und unverkennbar war. Sondern wohl auch, weil mit dem alten weißhaarigen Mann am Klavier eine längst vergangene Epoche authentisch greifbar blieb. Miller selbst hatte schon 1975 prophezeit, daß Swing & Jazz bald wieder einen Aufschwung erleben würden – nun konnte er selbst noch daran teilhaben und eine Brücke schlagen zur nächsten Generation von Musikliebhabern in aller Welt, als Teil der „Sinatra-Familie“ über den Tod von „Big Frank“ hinaus. Zu Millers 90. Geburtstag im Februar 2005 richtete ihm Frank junior eine große Party aus.

Ende Juni 2006 also führte Bill Miller sein Weg auf diese Weise nochmals nach Atlantic City, wo Sinatra junior im „Hilton“ auftrat. Und sein Mann am Klavier nach der Show in der Lounge mit den Reportern der „Washington Post“ plauderte. Viele Weggefährten aus früheren Tagen waren inzwischen gestorben, zuletzt noch Billy May, Tony Mottola und Juniors Orchesterleiter Bill Rogers. Auch das „Desert Inn“ in Las Vegas gibt es nicht mehr, jenen Ort, wo einst alles begonnen hatte mit „Sun Tan Charlie“ und „Big Frank“. Im Jahre 2000 wurde es geschlossen, ein Jahr später mit einer Ladung Dynamit dem Erdboden gleichgemacht.

Doch Nostalgie ist dem mittlerweile 91jährigen immer noch fremd: „Es geht nach vorne, nicht zurück“. Im Herbst 2005 hatte er nochmals im Studio gearbeitet, für das neue Album von Junior, das in diesen Tagen erschienen ist (vgl. die Besprechung in diesem Heft). Dafür kehrte Miller an eine traditionsreiche Stätte zurück, das legendäre „Studio A“ im Capitol Tower in Hollywood, wo er so oft mit „Big Frank“ gespielt hatte.

Ein eigenes Album hat Bill Miller nie aufgenommen. „Irgendwie ist es einfach nie dazu gekommen“, erzählt Miller, „und jetzt ist es wahrscheinlich ein bißchen spät dafür... aber andererseits: Wer weiß?“
Dann fragt in die Runde: „Wo treten wir eigentlich als nächstes auf?“
Nach Montreal, Kanada, gehe es jetzt.
„Und wann geht es dort los?“
Morgen abend, lautet die Antwort.
„OK“, sagt der alte Mann, „das paßt!“
One more for the road.

Nach Abschied klang das nicht. Doch als der Artikel mit der Beschreibung dieser Szene einige Tage später in der „Washington Post“ erscheint, ist der letzte Vorhang gefallen.

Am 28. Juni beginnt das Engagement im „Casino du Cabaret de Montreal“. Einen ganz Monat lang soll es dauern, mit fünf Shows pro Woche, montags und dienstags frei. Am Sonntag abend des 2. Juli 2006 begleitet Bill Miller wie gewohnt Sinatra am Flügel. Das Lied: „One For My Baby“. Es ist sein letzter Auftritt.

Zwei Tage später stürzt er in seinem Hotelzimmer und wird mit gebrochener Hüfte ins Montreal General Hospital eingeliefert, wo die Ärzte einen chirurgischen Eingriff für die nächsten Tage planen. Doch kurz nach seiner Einlieferung erleidet Miller einen schweren Herzinfarkt. Die Ärzte entscheiden sich für eine dreifache Bypass-Operation. Zwar wacht der Patient nochmal aus der Narkose auf, doch der Körper ist zu schwach für die Strapazen: Im Beisein von Familie und Freunden stirbt Bill Miller am Abend des 11. Juli 2006 im Krankenhaus.

Als man ihn drei Tage vorher in den Operationssaal schob, war er hellwach gewesen. Und hatte zu den Umstehenden nur einen Satz gesagt:
Fly Me To The Moon.
Sinatra-Basie.
Und kein Abschied, sondern ein Aufbruch: Das paßt.
Gute Reise, Bill Miller. Und viele Grüße an „Big Frank“.

***
(Besonderer Dank an Bill Millers Tochter Meredith Gordon und ihre Familie. Ihr und dem Andenken ihres Vaters ist dieser Artikel gewidmet. BV.)

X. Diskographischer Anhang

Die folgenden Anmerkungen sind eher als allgemeine Orientierungshilfe gedacht, denn alle Songs einzeln aufzulisten, bei denen Bill Miller am Piano mitgespielt hat, würde den Rahmen an dieser Stelle bei weitem sprengen.

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